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Umweltorientiertes Design

Jan 3, 2023

Neulich beim Lesen meiner IT- und Designartikel fiel mir eine Überschrift ins Auge, die sofort mein Interesse weckte: „How user-centered design might be holding you back“ bzw. „Wie nutzerzentriertes Design dich zurückhalten könnte“ [1]. Der Artikel war okay und hatte einige gute Aspekte, aber anders als vom Autor intendiert, blieb ich bei der Überschrift hängen, die einen ganz anderen Gedanken in mein Hirn pflanzte: Ist rein nutzerzentriertes bzw. menschenzentriertes Design eigentlich nicht ziemlich anmaßend in der heutigen Zeit?

Bevor wir allerdings diese Fragestellung erörtern, klären wir vorab erst einmal einige Begrifflichkeiten, um auf der gleichen Wissensbasis zu starten. Ich hole mal ein wenig aus und wandele durch die EDV-chronologischen PC-Zeitalter. In der guten alten Zeit, dem „Cataractär“ oder Wasserfallzeitalter, herrschte das Konzept des BDUF vor, des Big Design Up-Front. Ellenlange Spezifikationen, die über (gefühlte) Äonen hinweg (quasi) auf Steintafeln erarbeitet wurden, bildeten die Grundlage dessen, was im nächsten IT-Zeitalter von Anwender:innenn verwendet werden sollte. Oftmals verloren sich die Unternehmen bei der Entwicklung des digitalen Gewerks in einer Art Innensicht. Man konzentrierte sich zum Zeitpunkt des Schreibens der Spezifikation auf innovative Technik, Unternehmensziele und eben betriebswirtschaftliche Effizienz. Was können wir in kurzer Zeit im Rahmen der vorhandenen Ressourcen und des Budgets anbieten? Manchmal, aber leider nicht allzu oft, konnte das Gewerk sogar noch mit einer ansprechenden grafischen Umsetzung ornamentiert werden. Bei allem Bestreben wurden die Nutzenden erst am Ende der Entwicklungszeit mit den Produkten oder Projekten in Berührung gebracht. Diese Herangehensweise resultierte häufig in Anwendungen, die eine tiefgreifende Einarbeitung und Schulung erforderten, da sie nicht intuitiv bedienbar waren und den Menschen, die damit letztendlich arbeiten sollten, nicht die Funktionalität boten, die von den Betroffenen von Anfang an erwartet wurde. Das Projektteam war glücklich, doch die Nutzenden blieben auf der Strecke.

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Viele der schwerfälligen Bewohner des Cataractär haben sich evolutionsbedingt verändert und sahen sich mit den Neuerungen der Zeitalter des „Prä-Agilums“ und des anschließenden „Agilums“ konfrontiert. Wendigkeit und Reaktivität wurden jetzt bei der Projektleitung bzw. Produktentwicklung großgeschrieben. Zwei der bis in das heutige IT-Zeitalter noch vorherrschenden Entwicklungsäste waren das User-centered Design und das später folgende Human-centered Design (oft auch synonym verwendet), das sich hervorragend in die, diesmal nicht vom Autor erfundene, geochronologische Epoche des Anthropozän (altgriechisch: ἄνθρωπος (ánthropos), deutsch: Mensch und καινός: neu) eingefügt hat. Das Human-centered Design orientiert sich nicht in erster Linie an den Unternehmensinteressen und -kompetenzen, sondern stellt die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Wünsche der Menschen in den Mittelpunkt. Produkte und Projekte entstehen (so der hehre Wunsch) in einem iterativen Prozess und in engem Austausch mit den späteren Nutzenden. Anmerkung: Was für die Digitalbranche neu war, ist im Produktdesign schon seit den 90er-Jahren des letzten Jahrtausends gängige Praxis. Unter den millisekundenbewussten Digitalschaffenden ist der nutzerzentrierte Ansatz erst in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus gerückt.

Ok, alle Unklarheiten beseitigt? Diese geowissenschaftlich orientierte Einführung markiert den Punkt unseres aktuellen Schaffens und unserer aktuellen Bestrebungen, den Menschen im Mittelpunkt unseres digitalen Gewerks zu verorten. Anmerkung des Autors: Leider funktioniert noch nicht einmal das flächendeckend befriedigend, aber das ist eine andere Diskussion (#inclusivedesign #ethicaldesign #accessibility #wtfusability). Jetzt aber wieder zurück zu meinem Gedanken: Ist rein nutzerzentriertes Design eigentlich nicht ziemlich anmaßend in der heutigen Zeit?

Wohin uns der Anthropozentrismus gebracht hat, erfahren wir und die nachfolgenden Generationen am eigenen Leib. Dieses Jahr schon am 28. Juli begehen wir den Earth Overshoot Day [2], den Tag, an dem die Menschheit alle biologischen Ressourcen verbraucht hat, die die Erde im Laufe eines Jahres regeneriert. Ok, schlimm, aber da bekommen wir als hartgesottene Nachrichtenschauer doch noch nicht das Zähneklappern. Sollten wir aber! Denn wenn man die vorangehende Aussage in ein wenig anderes Szenario presst, sollte jedem von uns die wahre Tragweite dieses Tages bewusst sein. Stellen wir uns doch einmal die Erde als juristische Person vor, die vor allem an der Sicherung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen interessiert ist. In einem solchen Szenario würde CEO Erde der Menschheit den Zugang zu ihren natürlichen Ressourcen, Trinkwasser, Atemluft, Nahrungspflanzen, Holz, Fisch, alles, was sie in biologischen Zyklen (aka Geschäftsjahren) produziert, mit sofortiger Wirkung gleich nach dem Überschreitungsdatum abschneiden und den Zugang erst im nächsten Jahr wieder freigeben. Dieses drastische Beispiel aus dem Artikel „Your next persona will be non-human – tools for environment-centered designers“ [3], lässt uns die Bedeutung dieses Tages ungleich besser verstehen.

Lange genug hat sich der Mensch als Mittelpunkt der weltlichen Realität verstanden, und das hat uns an den Punkt geführt, an dem wir heute sind: Klimakrise, Umweltverschmutzung nie dagewesenen Ausmaßes, Wasserknappheit … you name it! Der Designer Mike Montero fasst es treffend zusammen: „The world isn’t broken. It’s working exactly as it was designed to work. And we’re the ones who designed it. Which means we fucked up“ [4]

Umweltorientiertes Design

Heute stehen wir am Abgrund und morgen sind wir vielleicht einen entscheidenden Schritt weiter. Es ist an uns, damit zu beginnen, etwas dagegen zu tun, sowohl individuell als auch systematisch. Es sollte in unser aller Interesse sein, die Auswirkungen des Klimawandels zumindest abzuschwächen, die immer weiter zunehmende Wasserknappheit zu bewältigen und die Tragfähigkeit unseres Planeten auch für künftige Generationen zu sichern. Und ja, auch DevOps-, Frontend- und Backend-Entwickler:innen, Full-Stack- und UI-Designer:innen können einen Beitrag dazu leisten.

Wir brauchen eine neue Perspektive, aus der heraus wir verstehen, was für uns und für alle Lebewesen auf dem Spiel steht. Wenn unser Schaffen weiterhin nur Human-centered bleibt und die Bedürfnisse, Ansprüche und ökologischen Grenzen [5] unserer Umwelt bei der Gestaltung und Bereitstellung unserer Projekte, Produkte und Dienstleistungen nicht gleichwertig berücksichtigt und respektiert werden, fahren wir die Karre (oder eigentlich: den Planeten) an die Wand. Im Gegensatz zu den Digitalschaffenden haben fast alle Industriezweige bereits Richtlinien und Messwerte zur Umweltverträglichkeit etabliert. Auch die Instrumente und Methoden zur Berechnung dieser Messwerte sind standardisiert. Die Gruppe der Entwickler:innen und Webdesigner:innen ist zurzeit noch an keine spezifischen Umweltstandards gebunden, und das muss sich ändern. Es ist an der Zeit, uns Menschen nicht mehr als den Mittelpunkt von allem und jedem zu sehen, oder mit den berühmten Worten von Paul Simon als Host in Saturday Night Live „Why don’t you stop taking yourself so seriously for a while?“ [6].

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Wir brauchen einen neuen Design- bzw. Denkansatz. Weg vom benutzerzentrierten hin zum umweltzentrierten. Umweltorientiertes Design könnte eine praktikable Möglichkeit sein, dem Menschen seine Rolle als Teil der Umwelt und nicht als deren Krönung wieder bewusst zu machen. Das anthropozentrische Design vernachlässigt die Einbeziehung von Umwelt oder nichtmenschlichen Faktoren in den Design- und Managementprozess. Umweltorientiertes Design oder Environment-centered Design zielt darauf ab, diese Lücke zu schließen und dieses fehlende, aber wichtige Element in den Gestaltungsprozess zu integrieren.

In einem interessanten Artikel mit dem Titel „The time for Environment-Centered Design has come“ von Monika Sznel auf UX Collective [7] beschreibt die Autorin „Umweltorientiertes Design“ als „[…] einen Ansatz für die Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung, der darauf abzielt, Produkte oder Dienstleistungen ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig zu gestalten, indem er sich auf die Bedürfnisse, Einschränkungen und Präferenzen der menschlichen Zielgruppe und der nichtmenschlichen strategischen Interessengruppen konzentriert. Er umfasst Wissen und Designtechniken, die an der Schnittstelle von menschzentriertem Design, Benutzerfreundlichkeit, Ökologie und Nachhaltigkeitswissenschaft entwickelt wurden.“

Umweltzentriertes Design ist die nächste Evolutionsstufe des menschenzentrierten Designs. Es werden sowohl die menschlichen als auch die nichtmenschlichen Interessengruppen eines Produkts oder einer Dienstleistung von Anfang an in die Prozesse mit einbezogen. Umweltorientiertes Design befähigt alle Projektbeteiligten, innerhalb der Konzeption und der anschließenden Umsetzung der Lösungen sowohl die Bedürfnisse der Menschen als auch die der uns umgebenden Ökosysteme mit einzubeziehen. Seien es Tiere, Auswirkungen auf den Regenwald im Amazonas oder auf indigene Völker, die Fauna der Nordsee und, und, und … Umweltzentriertes Design schafft das befreiende Gefühl, sich als ein Teil von etwas Größerem zu verstehen und nicht als die Krone der Schöpfung. Vielmehr wird jedes Ökosystem gleichermaßen berücksichtigt. Weg von der Pyramide mit dem Menschen an der Spitze und hin zu einer Kreisform, mit dem Menschen als einer von vielen anderen Spezies auf diesem Planeten. Meines Erachtens eine realistischere Sichtweise auf die Welt.

Nichtmenschliche Personas

Als Teil der Spezies Mensch ist beziehungsweise sollte es ein Leichtes sein, sich in die Bedürfnisse der eigenen Gattung hineinzuversetzen. Aber wie schaue ich durch die Brille von Mutter Erde, des Bodens, des Waldes, des Ozeans oder gar eines Wals? Gegenfrage(n): Wie mache ich es denn bisher in meinem Projektalltag? Wie argumentiere ich bisher für eine Benutzergruppe? Welche Tools gibt es dafür? Wenn wir die Worte von Whitney Hess „Acknowledge that the user is not like you” bzw. „erkenne an, dass der Nutzende nicht wie du ist“ [8] bereits beherzigen, dann sind wir schon auf einem guten Weg. Was für uns offensichtlich ist, muss für jemand anderen nicht unbedingt offensichtlich sein. Unsere Denkprozesse und unser Verständnis der Umwelt sind stark kulturell, von unserer Erziehung und von unseren früheren Erfahrungen geprägt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Menschen, für die wir etwas designen oder entwickeln, alle unsere Eigenschaften haben.

Eine Möglichkeit dieses Statement von Whitney Hess (Anmerkung des Autors: Auch Josh Brewer hat den Spruch schon verwendet [9], es scheint also etwas dran zu sein) in einen Design- bzw. Entwicklungsprozess zu integrieren, ist die Verwendung von Personas [10]. Personas lassen uns durch ihre Brille schauen und ermöglichen es, Entscheidungen anhand ihrer Bedürfnisse und Ziele zu treffen. Valide und belastbare Personas zu erstellen war schon immer mit Arbeit verbunden, allerdings gut investierter Arbeit. Wer sagt denn, dass Personas immer menschlich sein müssen (das wäre schon wieder anmaßend)? Lasst uns doch aus den bekannten Menschengefilden ausbrechen und lernen, eine andere Perspektive einzunehmen. Die Designerin Monika Sznel hat eine dreiteilige Artikelreihe über das Thema „Environment-centered Design (ECD)“ verfasst, bei der sie sich auch Gedanken zur Verwendung nichtmenschlicher Personas [11] als Design- und Entscheidungstools macht.

Wie bereits beschrieben, ist es gar nicht so einfach, durch die Augen eines anderen (der gleichen Spezies) zu schauen und sich in dessen Gefühlswelt hineinzuversetzen. Jetzt sollen wir uns in einen Wald oder eine Landschaft hineinversetzen? Erfreulicherweise haben hierfür schon einige prominente Schauspieler eine nicht zu verachtende Vorarbeit für uns geleistet, die es uns erleichtert, Empathie mit unserer Umwelt zu empfinden und Inspiration für unsere nichtmenschlichen Personas zu finden. Auf der Website von Conservation International [12], einer Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, die weltweite Biodiversität an Pflanzen, Tieren und Landschaftsformen zu erhalten, findet sich eine Rubrik Namens „Nature is Speaking“ [13]. Dort leihen Schauspieler:innen wie Julia Roberts, Harrison Ford, Reese Witherspoon, Edward Norton und viele andere nichtmenschlichen Entitäten wie dem Ozean, dem Boden, Mutter Natur und so weiter auf emphatische Weise ihre Stimmen. Es gibt auch eine deutsche Version [14] mit den Stimmen von Hannelore Elsner, Hannes Jaenicke, Marie Nasemann und anderen.

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Wenn das nicht ein guter Start ist! Die nichtmenschlichen Personas sollen uns dabei helfen, das Umfeld, in dem sowohl unsere Zielgruppen als auch unsere Produkte und Dienstleistungen performen sollen, besser zu verstehen und frühzeitig Implikationen zu erkennen. Je besser die Wissensbasis, umso besser und authentischer die nicht-menschliche Persona. Dazu braucht es Fakten, Fakten, Fakten (an der Stelle sei übrigens das Buch „Factfulness“ [15] empfohlen, um faktenbasiertes und datengesteuertes Denken zu trainieren). Es bedarf der Analyse von Sekundärdaten und intensiver Eigenrecherche. Mögliche Quellen sind: Verschmutzungsstatistiken, Daten und Berichte seriöser Organisationen ohne politische oder wirtschaftliche Zugehörigkeit (z. B. UNO [16]), von unserem Unternehmen oder von uns selbst gesammelte Daten (z. B. der CO2-Fußabdruck unseres digitalen Gewerks, Wasserverbrauch während des Produktionsprozesses oder die Menge an Energie, die benötigt wird, um den Betrieb der Software, des Büros und anderer notwendiger Infrastruktur sicherzustellen). Auch die Befragung von Vertreter:innen von Nichtregierungsorganisationen, die im Umweltbereich tätig sind, von Wissenschaftler:innen oder Kolleg:innen mit Fachwissen in einem bestimmten Bereich oder von faktenorientierten Aktivisten sind hervorragende Quellen zur Datensammlung und zur Vertiefung unseres umweltbezogenen Rucksackwissens.

Wie auch bei den echten Personas, müssen wir bei nichtmenschlichen Personas empirisch, ehrlich und authentisch bleiben und uns nicht dazu verleiten lassen, in Stereotypen, Unwahrheiten und Wunschvorstellungen zu verfallen. Wir benötigen belastbare Fakten zum tatsächlichen Zustand der jeweiligen Ökosysteme und ihrer Bewohner. Nur dann kann die NMP, die nichtmenschliche Persona, einen wirklich positiven und regulierenden Einfluss auf unsere Projekte und schlussendlich auf die Umwelt haben. Ich möchte dieses Format nicht als Tutorial „Wie bastele ich mir eine Persona?“ verwenden. Dazu gibt es reichlich Material, und das Netz liefert zusätzlich noch mannigfaltige Templates zur Erstellung von Personas. Aber ein paar Aspekte möchte ich an dieser Stelle schon ansprechen.

Allen Personatemplates ist gemeinsam, dass sie uns zuallererst mit der Persona visuell bekannt und vertraut machen. Hier lassen sich Dank des Internets viele Fotos unserer NMP finden. Gerne kann auch ein Urlaubsfoto aus dem eigenen Archiv herangezogen werden, was die Erfahrung mit der NMP meines Erachtens noch intensiver macht. Dem Bild folgend beschreiben wir unsere nichtmenschliche Persona und geben einen Einblick, was die Ursache für ihren derzeitigen Zustand ist und welche menschlichen Aktivitäten oder Schadstoffeinträge ihre Existenz bedrohen. Das ist durchaus vergleichbar mit der bekannten Personakategorie „Needs & Goals“ bzw. „Bedürfnisse und Ziele“. Ein überaus praktikables Stilmittel ist es hier (vgl. Julia Roberts als Mutter Erde [17]), der nichtmenschlichen Persona eine Erzählstimme zu geben (Icherzählung, Zitate). Wenn wir unsere NMP gebastelt haben, stellt sich die Frage, wie eine solche NMP eingesetzt werden könnte. Wer meine Artikel [18] und Vorträge [19] kennt, weiß, dass ich sehr häufig über den Ressourcenhunger des Internets und den Ausstoß an CO2 unserer digitalen Gewerke rede. Bleiben wir also beim CO2, aber ändern ein wenig die Perspektive.

Ein praktisches Beispiel

Stellen wir uns vor, dass wir eine Plattform für Klein- und Hobbygärtner:innen entwickeln, die europaweit operieren soll. Wir haben sowohl die Technik als auch die Vertriebskanäle unseres Portals gründlich durchdacht und schon ein paar Werbepartner für Gärtnerbedarf mit ins Boot geholt, die saisonal im großen Stil Blumenerde bewerben. Blumenerde ist ein essenzieller Bestandteil des Gärtners, sowohl im Garten wie auch auf dem Balkon und innerhalb der heimischen vier Wände. Im Frühjahr geht es meistens so richtig los und alle wollen raus in den Garten und auf den Balkon. Dann steigt natürlich die Nachfrage nach Blumenerde. Den wenigsten ist dabei bekannt, dass sich in den Plastiksäcken mit der Aufschrift „Erde“ größtenteils Torf befindet. Der Grundbaustein unserer Moore. Moore spielen eine wichtige Rolle für unser Klima. Sie sind effektive Kohlenstoffspeicher und Lebensraum für viele selten gewordenen Tier- und Pflanzenarten. Ihre Fähigkeit zum Speichern massenhafter Mengen an Kohlendioxid sucht ihresgleichen unter den anderen Ökosystemen des Planeten. Moore machen zwar nur drei Prozent der Erdoberfläche aus, dennoch speichern sie rund 30 Prozent des erdgebundenen Kohlenstoffs. Unter anderem nach Angaben des BUND und des Bundesumweltministeriums binden die Moore weltweit doppelt so viel CO2 wie alle Wälder zusammengenommen. „Jeder Hektar geschütztes Moor spart jährlich rund neun Tonnen CO2 ein, knapp so viel, wie jeder von uns im Durchschnitt pro Jahr verursacht“, so Michael Zika, WWF-Naturschutzexperte. Weiterhin ist es wichtig zu erwähnen, dass Moore zu 95 Prozent aus Wasser bestehen und dadurch bedeutsame Wasserspeicher sind. Sie helfen dabei, die Wucht von Überschwemmungen zu kompensieren und Flutkatastrophen zu verhindern. Aus diesem Grund sind intakte Moore für den Klimaschutz von zentraler Bedeutung. Ihre Zerstörung verursacht volkswirtschaftliche Schäden in Millionenhöhe. Der Bedarf an Torf im Gartenbau ist riesig. Die Mehrheit aller Setzlinge im professionellen Gartenbau, aber eben auch im Hobbygartenbau, wächst heute noch auf Torferde heran. Ohne es zu wissen, tragen viele Hobbygärtner:innen dazu bei, dass unwiederbringliche Moorlandschaften verloren gehen.

Da in Deutschland der Torfabbau am Auslaufen ist und nur auf landwirtschaftlich vorgenutzten Flächen erlaubt ist, also von Mooren, die bereits vor vielen Jahren trockengelegt wurden, werden große Mengen Torf verstärkt aus den baltischen Staaten importiert, wo der Schwund der Moore rasant voranschreitet. Woher der Torf kommt, der in der durchschnittlichen Blumenerde verarbeitet wird, ist für die Verbraucher:innen bzw. die Besucher:innen unseres Gärtnerportals kaum oder gar nicht zu ersehen. Sicher ist nur, dass dafür wertvolle Moore zerstört werden. Allein in Deutschland sind trockengelegte Moore für geschätzt zwei bis drei Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Mehr, als alle Windräder in Deutschland einsparen können, aber wie wir wissen, ist Klimaschutz eine globale Anstrengung. Jetzt mal Hand aufs Herz: Hätten wir uns beim Erstellen eines Gärtnerwebportals über so etwas je Gedanken gemacht? Hätte das für uns eine Rolle gespielt bei der Konzeption des Projekts? Anhand einer NMP wie eines Hochmoors könnten wir die Auswirkungen auf das Ökosystem durchgehen und sie uns ins Bewusstsein rufen. Allein die Recherche für unsere NMP konfrontiert uns mit den Implikationen der Thematik und zwingt uns dazu, eine gesamtheitliche Einordnung des Projekts im Kontext Klima und Umwelt vorzunehmen. Also, was ist gerade passiert? Wir als Digitalschaffende, die doch gar nichts mit Mooren im eigentlichen Sinne zu tun haben, haben in diesem fiktiven Beispiel unsere Verantwortung gegenüber diesem Ökosystem aufgedeckt! Wir haben eine Implikationskette aufgestellt, die eine direkte Beziehung mit unserem Handeln und unserem Gewerk etabliert.

Verantwortung und TORTE

Auch wir im digitalen Sektor tragen Verantwortung an der Entwicklung des Planeten und unserer Umgebung. Nur weil Software bzw. das Internet keinen Auspuff hat, heißt das noch lange nicht, dass es keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt hat. Ein weiteres Zitat des Designers Mike Monteiro fasst es sehr treffend zusammen: „We’re no longer pushing pixels around a screen. We’re building complex systems that touch people’s lives, destroy their personal relationships, broadcast words of both support and hate, and undeniably mess with their mental health.“ [4]

Aber nicht nur die psychischen Folgen unseres Handels für den Menschen müssen in unserem Arbeitsalltag stärker Beachtung finden, sondern auch die Implikationen für das Klima und für die Umwelt. Das obige Beispiel ist konstruiert, das gebe ich zu. Aber es zeigt, zu was wir fähig sind, wenn wir uns bewusst mit einer Sache beschäftigen, eben nicht nur technisch. Wir müssen weg von unserem ego- bzw. anthropozentrischen Weltbild und uns wieder als Teil eines Ökosystems verstehen, das leider zurzeit besser ohne uns als mit uns könnte. Ich möchte diese Ausgabe der Kolumne definitiv nicht so pessimistisch enden lassen, sondern eher zum pragmatischen Optimismus animieren. Wir können etwas machen und wir alle können unseren Beitrag dazu leisten, indem wir unseren Horizont erweitern und Produkte und Projekte mit Empathie für die nutzenden Menschen wie auch unsere Umwelt gleichermaßen angehen.

Als Autor des TORTE-Frameworks für Green Webdesign (Testen, Optimieren, Reduzieren, Thematisieren und Engagieren) [20] ermuntere ich Designer:innen, Entwickler:innen und Projektverantwortliche in Vorträgen und Artikeln dazu, TORTE in den Softwareentwicklungsprozess zu integrieren, um nachhaltige Softwarelösungen in die Welt zu entsenden, Green Webdesign bzw. Green Code ins Bewusstsein zu rufen und Nachhaltigkeit zu einem Designprinzip zu machen. Daher hier eine kleine Empfehlung: NMPs lassen sich hervorragend in der Rubrik Testen verorten und erlauben uns einen holistischen Blick auf ganze Ökosysteme statt einzig auf die vermeintliche Krone der Schöpfung, den Menschen. Vielleicht stellt ihr eure nächste Persona ja mit den Worten vor: „Ich bin Gaia, 4,5 Milliarden Jahre alt und Ursprungsort und Heimat aller bekannten Lebewesen …“

Links & Literatur

[1] https://uxdesign.cc/how-user-centered-design-might-be-holding-you-back-535311d64236

[2] https://www.umweltbundesamt.de/themen/erdueberlastungstag-ressourcen-fuer-2022-verbraucht

[3] https://uxdesign.cc/your-next-persona-will-be-non-human-tools-for-environment-centered-designers-c7ff96dc2b17

[4] Monteiro, Mike: „Ruined by Design: How Designers Destroyed the World, and What We Can Do to Fix It“; Mule Books, 2019

[5] https://www.wired.com/2009/09/earth-users-guide

[6] http://snlarchives.net/Episodes/?197611202

[7] https://uxdesign.cc/the-time-for-environment-centered-design-has-come-770123c8cc61

[8] https://whitneyhess.com/blog/2009/11/23/so-you-wanna-be-a-user-experience-designer-step-2-guiding-principles/

[9] https://52weeksofux.com/post/385981879/you-are-not-your-user

[10] https://xd.adobe.com/ideas/process/user-research/putting-personas-to-work-in-ux-design

[11] https://uxdesign.cc/your-next-persona-will-be-non-human-tools-for-environment-centered-designers-c7ff96dc2b17

[12] https://www.conservation.org

[13] https://www.conservation.org/nature-is-speaking

[14] https://www.conservation.org/nature-is-speaking/german

[15] https://www.gapminder.org/factfulness-book

[16] https://www.unep.org/resources/report/action-plan-sustainable-planet-digital-age

[17] https://www.conservation.org/nature-is-speaking/julia-roberts-is-mother-nature

[18] https://entwickler.de/reader/reading/windows-developer/03.2022/c0e3b1ca2c5e949b9bec02d1

[19] https://webinale.de/web-design-development/muell-hat-3r-und-websites-haben-torte

[20] https://www.informatik-aktuell.de/management-und-recht/digitalisierung/green-webdesign-oder-frontendsforfuture-i.html

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